Was passiert, wenn ein Fotograf nur eine knappe Beschreibung über eine Person hat, die er noch nie kennen gelernt hat. Und wenn er danach sofort ein Portrait dieser Person erstellen soll. Es siegt das Vorurteil und nicht der Blick auf den Menschen.
Porträts gehören zur Königsdisziplin in der Fotografie. Denn besonders bei der Menschenfotografie zählen andere Dinge als die Technik. Einem wesentlichen Faktor schenkt man als Fotograf oft nicht die nötige Aufmerksamkeit oder lässt sich nur allzuleicht von Äußerlichkeiten blenden: Dem Menschen, den man portraitieren möchte. Das wirklich Spannende ist, wie man das Wesen der Person möglichst so darstellt, wie man ihm begegnet – abseits aller Klischees, Vorurteile und Masken, die nun mal jeder von uns mit sich herumträgt.
Bei einer Portrait-Aufnahme legt man viel Augenmerk auf Lichtführung, Bildausbau und Kameratechnik. Und das ist ohne Zweifel richtig. Was macht dann aber den Unterschied aus, dass manche Portraits seelenlos aussehen oder man auf anderen Portraits das Gefühl hat, die Persönlichkeit des porträtierten Menschen zu erkennen?
Eine Begegnung von zwei Menschen
Die Stimmung zwischen zwei Menschen, also dem Fotografen und dem zu portraitierenden, ist das eigentliche, das man auf einem Foto sieht. Und genau dies macht den Unterschied aus zwischen einem Retorten-Portrait, bei dem technisch alles stimmen mag, aber die Seele fehlt, und der Begegnung zweier Menschen. Die Kunst dabei ist im Grunde so alltäglich: den Gegenüber offen und vorurteilsfrei zu begegnet und ihn als den Mensch zu sehen, der er ist. Allerdings tragen wir alle tagtäglich unsere Masken und so ist es immer ein besonderer Moment, wenn es gelingt, dass das Gegenüber seine Maske fallen lässt.
Egal, welchen Status er hat. Ob Top-Manager, Promi oder Knasti. Allen gemein sind die grundsätzlichen menschlichen Bedürfnisse und menschliche Eigenschaften. Liebe, Angst, Aggression, Hunger, Durst, Lust auf Sex. Wer hinter die Kulisse blicken kann, den Menschen aufbauen, und ihren wahren Charakter erfasst, ist nicht nur ein großer Fotograf. Er ist auch ein großartiger Mensch, bei dem sich andere angenommen fühlen. Den größten Fotografen ist dies buchstäblich in die Wiege gelegt, beispielsweise Peter Lindbergh, Walter Scheels oder Jürgen Teller.
Faszinierendes Video-Projekt von Canon Australien
Zu welch unterschiedlichen Ergebnissen man bei einem Portrait kommt, wenn man das Gegenüber auf seine äußeren Merkmale begrenzt, zeigt sehr beeindruckend Canon Australien in einem Promo-Video. Die Aufgabe: Sechs Fotografen sollen eine Person portraitieren. Ihnen wurden unterschiedliche Informationen über diese Person gegeben: Bei dem einen war er ehemaliger Alkoholiker, bei anderen Selfmade-Millionär, Ex-Häftling oder Gedankenleser.
OK, die Fotografen wurden durch das Auftreten des Schauspielers stark manipuliert. Und anscheinend denken sie – oder es ist ihnen gesagt worden -, dass sie den Protagonisten entsprechend der erhaltenen Infos in Szene setzen sollen. Doch wie auch immer die Bilder entstanden sind: Sie zeigen überspitzt, was passiert, wenn man nicht den Menschen an sich im Blick hat. Die Resultate sind höchst unterschiedlich. Sie spiegeln die Vorurteile über die zu portraitierende Person wider, die sich der jeweilige Fotograf alleine durch die knappe Beschreibung der Person kurz vor dem Shooting erhalten hat.
Eine ganze Serie von Canon Australia
Dieses Video zeigt dies sehr eindrucksvoll und mittlerweile ist es mit über 11 Millionen Klicks ein richtiger Youtube-Hit geworden. Daher hat Canon Australien mit „THE LAB: Shifting Creative Thinking Behind The Lens“ eine ganze Serie zu ähnlichen Themen erstellt. Eine weitere Aufgabe war, nichts zu fotografieren: Sechs Personen sollen Fotos von einer weißen Wand machen. Dabei sind sie auf die unterschiedlichsten Ideen gekommen (siehe weiteren Artikel auf gut-fotografieren.de).